von Tanja Krieger (Dozentin für Schreib/Poesietherapie/Heilpraktikerin Psychotherapie)

Hast du Unaussprechliches erlebt, dann kann es dir helfen zu malen, zu tanzen, etwas zu bilden oder darzustellen. All dies kann helfen, einen Ausdruck zu finden.  Und darüber hinaus kannst du LESEN.  Dabei muss es nicht zwingend um Texte gehen, die sich mit dem gleichen Thema befassen. Wichtig ist, dass die Texte die Gedanken, Gefühle, Impulse und das Verhalten anderer Menschen so wiedergeben, dass du in ihre Welt eintauchen kannst. Wie sehen die Personen in den Texten die Welt und sich selbst? Wie erleben sie die Welt und sich selbst? Wie meistern sie ihr Leben in der Welt, in der auch du lebst? Geschichten fremder Autoren bieten Lebensentwürfe, Ideen für Problemlösungen und vielleicht auch dir neue Ansätze für menschlichen Entwicklungsaufgaben, die sich je nach Alter und Lebenssituation stellen. 

Auch wenn es sich um erfundene Texte oder Science Fiction handelt, so ist doch immer auch Realität enthalten. Vor allem das emotionale und gedankliche Nacherleben, lassen dich in die beschriebene Welt eintauchen. Durch häufiges Lesen wird es dir leichter fallen, dein eigenes Erleben in Worte zu fassen. Dein Wortschatz und auch deine Fähigkeit in sprachlichen Bildern zu schreiben und auch zu sprechen, wird sich ausbauen. Je vielseitiger du beim Lesen interessiert bist, was die Autoren und auch die Themen angeht, um so vielseitiger wird auch dein eigener Schreibstil sich entwickeln.

Wie schaffen es die verschiedenen Autoren, die Figuren vor deinem inneren Auge lebendig zu werden zu lassen? Wie beschreiben sie deren Gefühle und Gedanken? Welche Geschichte nimmt dich mit und durch welche quälst du dich durch? Schaffst du es herauszufinden, wieso sich die ein Geschichte sich wie von selbst liest und die andere zäh, wie ein altes Steak ist? Der Wechsel zwischen Erleben beim Lesen und dem Reflektieren, wie die Autoren dieses Erleben schaffen, hilft dir selbst beim Schreiben.  

Dabei musst du bei deiner Literaturauswahl nicht nur aus der hohen Literatur lernen. Gerade Bücher, die nahe am Alltaggeschehen und der Umgangssprache sind, bieten einen guten Nährboden, auf dem authentischer Ausdruck wachsen kann. Denn die Helden dieser Geschichten kämpfen oft mit alltäglichen Problemen, wie sie auch dir Kopfzerbrechen bereiten. Bücher gibt es für jede Altersstufe, für die wichtigsten Entwicklungsaufgaben, beide Geschlechter und für unterschiedliche soziale Konstellationen. Die Wahrscheinlichkeit ist damit hoch, dass du eine Geschichte findest, in der der Held dein Alter und Geschlecht hat und mit dem gleichen oder einem ähnlichen Dilemma kämpft. 

Das Lesen von Büchern, die deine Situation sehr ähnlich abbilden, kann dir vor allem Anfang helfen.  Bist du schon erfahrener in der Selbstreflektion und im Ausdruck, kannst du auch aus Texten Nutzen ziehen, die auf den ersten Blick nichts mit deinem Problem zu tun haben. Es wird dir leichter fallen Parallelen, Anknüpfungspunkt und Schnittstellen erkennen und ebenso die notwendigen Anpassungen für dein Leben vorzunehmen.

Um einen eigenen Ausdrucksstil zu entwickeln, solltest zu möglichst viel ausprobieren- sowohl im Schreiben, als auch beim Lesen.  Und letztlich auch im Leben. Wer viel erlebt, kann über vieles schreiben. Nicht immer nur das gleiche Thema zu bearbeiten, weitet den Blick. Manchmal ist es gerade der Abstand, der nötig ist, die Lösung zu finden. 

Lesen ermöglicht dir aber nicht nur Ausdrücke für dein Erleben zu finden: Es kann auch sein, dass Bücher dich erst auf die Fährte eines Problems bringen.  Wenn du durch eine Geschichte beginnst Erfahrungen aus deinem Leben aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Manchmal weiß man gar nicht, dass man ein Problem hat, bis man darüber liest. 

Es soll natürlich nicht darum gehen, dein Leben zu verkomplizieren. Wo für dich kein Problem besteht, musst du auch keines kreieren. Doch manches schleicht sich auch unbemerkt in dein Leben und du merkst die negativen Folgen bereist, kannst sie aber noch ignorieren oder hoffst, dass es sich von allein klärt. Zu lesen, dass es anderen ebenso geht, sie sich mit ähnlichen oder gleichen Problemen herumschlagen, kann dir Mut machen, deine eigenen Probleme anzugehen. 

Aber auch, wenn du bereits viel Therapie und Selbstreflektion hinter dir hast, dann kann es ganz entspannend sein, wenn du erkennst, dass sie Dinge die du vermeintlich noch bearbeiten musst, einfach kleine Eigenheiten deiner Persönlichkeit sind. Wenn der lebenskompetente Held einer Geschichte, dieselben kleinen Schrullen hat, dann liest sich das oft lustig. Bei dir führen sie dazu, dass du dich abwertest. Aus dem langen Aufarbeiten ist vielleicht längst eine Selbstoptimierung geworden.  

Natürlich sollst du nichts aushalten, was dir Leidensdruck macht. Aber du solltest auch nicht versuchen, es immer allen anderen recht zu machen und dich zu perfektionieren, nur um keine Angriffsfläche zu bieten. Wer dich angreifen möchte, würde es gerade wegen deiner Makellosigkeit tun.  

Also lass auch mal alle viel Viere grade sein und VIEL SPASS BEIM LESEN!